Neustadt - Bologna - Neapel und Köln, vom 11.05.1980 bis 

Liebe Musik,
vielleicht wird es dich überraschen, einen Brief von einem Unbekannten zu bekommen, aber auch wenn du mich nicht kennst, sind wir uns in den letzten 25 Jahren sehr häufig begegnet. Heute möchte ich dir schreiben, weil du es immer wieder geschafft hast, mir mein Leben zu erhellen, während ich fühle, dir nie genug gegeben zu haben.
Die Worte, die du lesen wirst, sind für all das, was du bis jetzt für mich getan hast und für all das, was du für mich in Zukunft noch tun wirst.
Sicherlich wirst du dich fragen, wo wir uns das erste Mal begegnet sind ... na ja, um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht genau. Ich weiß nur, dass du, seitdem ich dich entdeckt habe, immer meine wichtigste und geliebteste Begleiterin gewesen bist.
Ich glaube, dass sich unser erstes Rendezvous mit einem für mich sehr grundlegenden Ereignis deckt: Keine Ahnung, wie es der Nikolaus damals geschafft hat, auf seinen Schultern deinen riesigen Freund, das alte Klavier, zu schleppen, aber irgendwie (ich denke, dass Mama und Papa ihm dabei behilflich waren) ist es ihm geglückt, es in mein Zimmer zu transportieren.
Damals war ich 3 Jahre alt und ich vermute, dass dein hölzerner Freund ungefähr mindestens 20 Jahre älter war.
Unabhängig von dem großen Altersunterschied habe ich mich sofort in ihn verliebt, in ihn, der mir nicht nur geholfen hat, musikalisch zu wachsen, sondern der auch meine erste große Liebe war. Bis dahin hat meine kleine Welt doch nur aus Stofftieren und Spielsachen bestanden ...
In diesem Alter - das weiß man - sind Kinder sehr neugierig.
Es verbindet sie die Lust, alles um sich herum zu entdecken. Natürlich war ich da keine Ausnahme und so fing ich an, mich anzunähern, es mit den Fingern zu berühren und dann habe ich nach und nach so langsam verstanden, wie es funktioniert.
Weißt du, was die allererste große Freude war, die du mir geschenkt hast? Das Herausfinden, dass dieses große, braune und hölzerne „Gebilde" auch Töne erzeugen kann. Klar, dass ich noch nicht kapiert hatte, was dies für mich bedeuten könnte. Noch nicht...
Aber, ich erinnere mich auch, dass es dann irgendwie fast anfing, mich zu nerven. Das Klavier stand immer brav und ruhig auf seinem Platz.
Wenn ich anfing, meine Finger über seine weißen und schwarzen Tasten zu bewegen, bekam ich immer die gleiche Antwort. Außerdem war es mir damals nur möglich, es mit meinen beiden Zeigefingern zum Klingen zu bringen! Mit der Zeit hat sich diese Langeweile fast in eine Art Wut verwandelt. Ich dachte, es wäre daran schuld und so ließ ich es für einige Zeit links liegen.
In diesem Alter - auch das ist bekannt - werden Kindern die Dinge um sie herum sehr schnell langweilig.
Damals war es eine Herausforderung, die größer war als ich selbst. Heute weiß ich, dass ich zu dieser Zeit einfach noch zu klein, zu unreif war, um zu verstehen, welcher Schatz mir in meinen eigenen vier Wänden geschenkt wurde.
Und genau diese vier Wände sind es, die ich heute so vermisse, in die ich viel zu selten zurückkehre.
Ach ja, ich hätte fast vergessen, dir zu erzählen, dass ich ca. 20 Jahre in Deutschland gelebt habe, bevor ich nach Italien gezogen bin. (Ich weiß natürlich, dass auch du Deutschland sehr gut kennst: ... deine Spuren lassen sich in den grandiosen Werken der genialen Musiker wieder finden, die du diesem Land geschenkt hast).
Meine Mama ist Deutsche, mein Papa Italiener. Er hat sich ungefähr vor 30 Jahren nach Deutschland „verzogen" (ja ... die Liebe!!!)

Ich habe gerade meinen Abschluss an der Universität für „Moderne Fremdsprachen für Dolmetscher und Übersetzer" in Bologna (Forlí) gemacht. Es fehlt mir nur noch die Diplomarbeit!
Wo war ich eigentlich stehen geblieben? Ach ja, ich erzählte dir, dass ich in Deutschland geboren sei, in einem relativ unbekannten Städtchen namens Bad Windsheim in Franken, ungefähr eine Autostunde von dem viel berühmteren Nürnberg entfernt, das nicht nur wegen seines geschichtlichen Hintergrundes bekannt ist.

Um ehrlich zu sein, habe ich früher nie richtig bemerkt, wie schön die Stadt Nürnberg eigentlich ist. Es kommt ja vor, dass, wenn man in einer solch wunderschönen Stadt mit unzähligen Kunstreichtümern aufwächst, sie häufig gar nicht richtig kennt. Erst jetzt, da ich sozusagen als „Tourist" dorthin zurückkomme, gelingt es mir, sie wirklich zu schätzen.
Du sollst wissen, dass meine Mama in der Stadt Musiklehrerin ist, in der auch ich bis zum Beginn meines italienischen Abenteuers gewohnt habe: Neustadt an der Aisch. Da ihr eine schöne Stimme geschenkt wurde, hat sie an der Musikhochschule in Würzburg studiert.

Zweifellos habe ich meine Musikalität von ihr geerbt. Mit Sicherheit auch deshalb, weil mein Vater ständig falsch singt. Als er jung war, sang er hauptsächlich im Stadion, um „die Alte Dame, Juventus Turin, anzufeuern oder um die raren Siege seiner Mannschaft „La Nocerina" gemeinsam mit den eigenen Teamkollegen zu feiern. Mein Vater jedoch hat viele andere Qualitäten, die mir heute sehr nützlich sind, um mich in deiner Welt, liebe Musik, zurecht zu finden.

Ich bin ihm sehr dankbar für all das, was er in den letzten Jahren für mich unternommen hat und schätze ihn mehr, als er glaubt. Später werde ich dir das noch genauer erklären. Also, um noch einmal auf meine Mutter zurück zu kommen, die, wie nur wenige Andere das Glück gehabt hat, ihre Leidenschaft mit ihrem Beruf zu verbinden, bin ich mir dessen bewusst, dass ich die Annäherung an dich zunächst nur ihr zu verdanken habe. Ich erinnere mich daran, dass sie manchmal in mein Zimmer kam, um nur für mich alleine wunderschöne Stücke zu spielen.

Noch heute, wenn ich die Augen schließe, höre ich jene liebevollen Melodien genau. Die Dinge, die mich am meisten beeindruckt haben, waren der Ausdruck in ihrem Gesicht und ihre Art zu spielen. Es schien mir fast so, als ob sie außer mit den Händen auch mit den Augen spielte, die sie während der schönsten Passagen immer schloss und auch mit ihrem Mund, den sie dann leicht verzog.

Im Laufe der Zeit wurde ich mit dem Klavier vertrauter ... natürlich versuchte ich, Mama zu imitieren und plötzlich war auch ich in der Lage, kleine Liedchen zu spielen, aber vor allem begann ich mit dem Singen! So merkte ich, dass ich nicht nur ein, sondern zwei Instrumente „spielen" konnte. Ich will nicht verleugnen, dass mir die Klänge, die aus meinem Mund kamen, gefielen. Dies zu merken, war die größte Entdeckung. Es ist mir klar, dass, wenn du diese Aufnahmen von damals heute hören würdest, dir bestimmt alle deine nicht vorhandenen Haare zu Berge stehen würden.

Es waren lediglich einfache Melodien aus dem Kindergarten oder dem Radio, deren Interpretation zu wünschen übrig ließ.
Nachdem ich mit sechs Jahren in der 1. Klasse einige Buchstaben schreiben konnte, jedoch eher nicht so gut im Rechnen war, beschloss meine Mama, mich bei einer deiner vielen Schulen, der „Musikschule Neustadt an der Aisch" anzumelden.

Vielleicht war sie es leid, diese für sie wohl recht ungewöhnlichen Klänge anhören zu müssen, die aus meinem Zimmer drangen. Sie wollte, dass ich das Klavierspiel ordentlich erlerne. Zugegeben, ich war recht skeptisch, denn die Gemütlichkeit ist ein nicht unwesentlicher Teil meines Charakters.

Das zeigt sich auch darin, dass ich, anstatt gewisse Dinge anzupacken oftmals zu früh aufgebe. So etwas ist aber nicht sehr hilfreich, wenn man einen Traum verwirklichen möchte. Damals erschienen mir die wenigen Stücke, die ich imstande war zu spielen, schon regelrechte großartige Meisterwerke. Tatsache aber ist, dass ich von da an jeden Mittwoch zur Klavierstunde gehen musste.

Die Lehrerin, eine etwa fünfzigjährige Frau, hatte das große Glück (oder vielleicht war es eher meins), mich nur zweimal in ihrem Leben zu treffen. Das war so: Abgesehen davon, dass sie gleichermaßen unsympathisch und streng war, werde ich mich immer an ihren starken Mundgeruch erinnern. Ich zweifle keineswegs an ihren Fähigkeiten, und sicher könnte ich heute viel besser spielen, hätte ich nicht ihre fünfminütige Abwesenheit während der zweiten Stunde ausgenutzt.
Das war der letzte Unterricht, weil ich weinend nach Hause flüchtete. Meine Mutter war sehr wütend auf mich, aber jetzt weiß ich, dass ich eine grundlegende Sache verstanden habe. Dies ist zu einer meiner tiefsten Überzeugungen geworden:
Musik, wenn man dich kennen lernen möchte, muss man es selbst in die Hand nehmen. Du kannst nicht erzwungen werden! Das Verhältnis, dass zwischen dir und den Menschen und umgekehrt besteht, muss vollkommen natürlich sein, ich meine damit, dass es nicht der Hilfe eines Vermittlers bedarf. Es handelt sich vielmehr um eine spontane Liebe, die für dich entflammt und einen nicht mehr los lässt.

Natürlich muss ein gewisser Grad an Veranlagung vorhanden sein, ein verborgenes Talent in einem schlummern, aber sicher auch die notwendigen und praktisch nutzbaren Mittel, um dich zu erreichen. So gesehen hatte ich zugegebenermaßen großes Glück.
Du weißt schon, dass meine Mutter diejenige war, die mich als erste dazu angeregte, in deine Welt einzutauchen. Außerdem haben das Klavier und - die wichtigste Entdeckung - die mir eigene Art, mich auszudrücken, (meine Stimme) es mir erlaubt, dies tun zu können. Situationen und Menschen können dir helfen und zu dir finden, aber der wichtigste Moment, in dem du dich verliebst, muss aus deinem Inneren kommen.

Stell dir vor, deine Freunde stellen dir ein Mädchen vor. Es ist eindeutig, dass du ohne ihre Hilfe nie mit ihr Kontakt aufgenommen hättest, aber du verliebst dich nicht, weil dich andere dazu auffordern. Genau das meine ich: du bist nicht nur ein mathematisches System, bestehend aus Noten, Tonleitern und Akkorden, sondern auch - und vor allem - Liebe, Leben, Erinnerung, Leidenschaft, Freud und Leid.

Du bringst Menschen gleichzeitig zum Lachen und Weinen. Du sorgst für Gänsehaut und Bauchschmerzen. Du bist echt.
"Un giorno senza la tua fantasia sarebbe inutile anche viverlo e più t'ascolto e più ti sento mia sei verità purissima energia quando piango sei con me potessi ti ringrazierei" (dt. "Ein Tag ohne deine Phantasie wäre des Lebens nicht wert und je mehr ich von dir höre desto mehr fühle ich dich, du bist mein, du bist Wahrheit, pure Energie; wenn ich weine, bist du bei mir und wenn ich könnte, würde ich dir immerzu danken" aus "Sei musica" - Nevio).
Und hier beginnt die Zeit meiner ersten öffentlichen Auftritte.
Mein erstes richtiges Konzert gab ich im Alter von 10 Jahren, weil meine Mutter einen männlichen Interpreten für den Schulchor brauchte, den sie leitete. Jedes Jahr geben alle Schulen und die jeweiligen Chöre ein in ganz Neustadt bekanntes Konzert.

Anfangs war ich von ihrem Vorschlag nicht gerade begeistert. Mag sein, weil ich noch nie außerhalb meines Zimmer und vor einem anderen Publikum als meiner Familie aufgetreten war, vielleicht weil ich mich als einziger Junge in mitten hunderter Mädchen unwohl fühlte. Selbstverständlich hätte ich heute ohne Nachzudenken sofort zugesagt (natürlich nur um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, versteht sich:)
Ich erinnere mich daran, dass ich mich während der Konzertproben von den Mädels beobachtet fühlte, und ich machte mir daher größere Sorgen um meine Frisur als um den Gesang.
Wenn ich manchmal nervös werde und mir Sorgen mache, liegt das nur an den äußeren Umständen und nie daran, dass mein Auftritt auch daneben gehen könnte. Ich bin - und war es auch damals - von meinem Gesangstalent überzeugt, auch wenn - wie in allen Bereichen - noch großer

Verbesserungsbedarf besteht. Zudem hat das Publikum eine Mittlerrolle: es bildet sich immer seine eigene Meinung über deine Stimme und deine Interpretation und äußert diese. Einerseits fühle ich mich sehr selbstsicher, andererseits bin ich offen für Kritik ...

solange sie konstruktiv ist. Im Laufe der Zeit habe ich etwas entdeckt, was dem Anschein nach unlogisch ist. Mir fällt es viel schwerer vor zwei, drei Personen zu singen, als vor unzähligen Augenpaaren, die auf mich gerichtet sind. Zum Beispiel war mir das Singen vor einer einzigen Person anfangs unangenehmer. Ich konnte die Familientreffen nicht ausstehen, wenn meine Verwandten dabei waren und meine Mutter immer wieder die gleiche fantastische Idee hatte: "Nevio, setz dich doch ans Klavier und sing etwas für uns!"

Ich weigerte mich und verdrückte mich, weil mir das sehr peinlich war. Vielleicht lag es daran, dass ich auf dich, liebe Musik, eifersüchtig war und dich mit niemandem teilen wollte. Nachdem ich die positiven Seiten, die beispielsweise das Singen für ein einziges Mädchen mit sich bringt, erkannt und zu nutzen gelernt hatte, überwand ich mit der Zeit diese Abneigung.
In meinen Augen ist das Singen ein "Striptease der Seele". Man zeigt sein Innerstes denjenigen, die einem zuhören, und entblößt sich bis aufs letzte Hemd. So wirkt man plötzlich zerbrechlich und anfällig. Dieser Umstand ist nicht immer leicht zu ertragen. Singen zu können, bedeutet stets auch eine große Portion Mut. In Bezug auf Mädchen, wollte ich dir von ganzem Herzen danken, weil du mir auf diesem Gebiet sehr geholfen hast. Weißt du, dass es um ein Vielfaches leichter ist, bei ihnen Eindruck zu schinden, wenn man das Glück hat, ein bisschen singen und die Gitarre zupfen zu können (was ich mir übrigens im Laufe von 3 Jahren selbst beigebracht habe - ich bin ein armer Student und kann mir den Luxus eines Pianos nicht leisten)?
Na klar, weißt du das, die du mehr mit den Gefühlen anderer spielst als irgendjemand sonst! Auf jeden Fall bin ich dir sehr dankbar für die „Zusatzausstattung", die du mir diesbezüglich geschenkt hast.
Zurück zum Eindruck von der Bühne und dem Publikum bei meinem ersten Konzert. Meine Rolle war die eines kleinen Drachens, Hauptdarsteller eines Musicals für Jugendliche, aus der Feder des bekannten Sängers Peter Maffay. Ich hätte zwei Stücke singen sollen, eines als Widmung an meinen Bühnenvater, einen riesigen Drachen, und das andere zur Vernichtung des Riesen.
Licht aus.
Vorhang auf.
Stille.
Fünfhundert Zuschauer.
Temperaturen wie am Äquator ... und mir läuft der Schweiß kalt über die Stirn!
Die Haare sitzen.
Husten im Zuschauerraum und Mama gibt das Zeichen.
Alle sind bereit.
Die Musik läuft und der Chor beginnt zu singen.
Ich bin dran.
Hinter den Kulissen habe ich mir das anders vorgestellt. Sobald ich zu singen angefangen habe, ist die anfängliche Anspannung plötzlich ganz und gar verschwunden. Die mit dir eingegangene Symbiose war nahezu perfekt. Du, liebe Musik, hast mich an der Hand geführt und sofort habe ich mich sicher gefühlt, weil auf einmal diese ganzen Leute nicht mehr da waren. Ich habe dich ganz nahe gefühlt. Alleine. Du und ich.

Du warst meine einzige Zuschauerin. Ich habe mich so stark gefühlt, dass ich sogar gewagt habe, die Melodie eigenständig zu ändern und zu improvisieren.
Große Augen und Überraschung.
Trancezustand.
Nur Mut! Mama lächelt.
Tosender Beifall.
Ich verbeuge mich.
Der Vorhang fällt.

Die Lichter sind noch an.
Shake hands hinter den Kulissen.
Allgemeine Zufriedenheit.
Persönliche Zufriedenheit.
Von nun an hätte ich keine Angst mehr vor einem Publikum gehabt. Das Schiff "Nevio" hat seine erste, wichtigste und aufregendste Jungfernfahrt überstanden.

Die nächsten Jahre meines Lebens sind durch viele Konzerte und Abendveranstaltungen in Pianobars charakterisiert. Fast jedes Wochenende habe ich ein italienisches Restaurant gefunden (und dieser gibt es viele in Deutschland, fast in jeder Stadt gibt es eine Pizzeria, die oft den Namen "Pizzeria Roma" oder "Pizzeria Capri" trägt), das bereit war, mich für ein paar Stunden guter Musik zu bezahlen. Gute Musik? Von wegen! Meine Aufgabe bestand lediglich darin, einige Pärchen mehr ins Lokal anzulocken, um somit die abendlichen Einnahmen des Besitzers zu erhöhen.

Du kannst dir vorstellen, dass das Spielen während andere essen und dich gar nicht richtig wahrnehmen, nicht das höchste der Gefühle ist! Auch nicht die akustische Verschmutzung so vieler schmatzender Zungen (auch wenn ich zugeben muss, dass sie manchmal den Takt mit meinen Liedern gehalten haben). Weißt du, man ist da und singt den ganzen Abend lang "O sole mio" oder "Azzurro".

Man sollte die italienische Tradition sicherlich respektieren, doch du wirst sicher verstehen, dass ein 13- oder 14-jähriger Junge sich so nicht amüsieren kann. Wenn ich manchmal davon rede, dass man sich manchmal für dich "verkaufen" muss, beziehe ich mich auf diese Vorkommnisse. Die einzige positive Note an dem ganzen war der nicht geringe und vor allem konstante finanzielle Vorteil. Hinzu kommt, dass ich eine gewisse Erfahrung gesammelt habe, dadurch, dass ich an verschiedenen Orten und zu verschiedensten Anlässen gespielt habe. Doch ich muss zugeben, dass ich mich nicht in allen Situationen unwohl gefühlt habe. Die Möglichkeit durch die eigene Interpretation etwas mitteilen zu können, das ein Applaus oder auch nur ein einfaches Lächeln entfacht, macht mich auf jeden Fall glücklich.

Währendessen ging mein Leben ohne große Überraschungen weiter und in jener Phase, ich meine meine post-Akne Phase, haben andere Sachen den Vorrang vor dir gehabt. Es war die Zeit wo ich herausgefunden habe, dass die Eigenerotik einige Zeit in meinem Leben in Anspruch nahm. Vielleicht auch zu viel. Um diesem mitleiderregenden Zustand ein Ende zu setzen und, weil, - Scherz beiseite -, die Frauen eines von zwei Wundern auf der Welt sind (das andere bist du, meine liebe Musik), begann ich immer mehr mich für sie zu interessieren. Ich würde sagen, dass ich damit eine äußerst gute Wahl getroffen hatte.
Endlich volljährig! Führerschein, Auto und Schulabschluss, alles in der Tasche! Zum Bund? Ich habe mich für den Zivildienst entschieden, weil ich so nicht nur wenige Kilometer von zu Hause entfernt weiterarbeiten konnte, sondern auch weil ich viel hinzulernen konnte.

Es ist schön, zu helfen und sich nützlich zu fühlen. In jener Zeit habe ich herausgefunden, dass zusätzlich zu all den Krankheiten, die ältere Leute befallen, die schmerzvollste von allen die Einsamkeit ist. Eines Tages werde ich darüber in eines meiner Lieder singen und es ihnen widmen.
Aber du, liebe Musik, wo bist du in all dem abgeblieben? Du hast das schönste Ende erfahren, das man nur erhoffen kann. Ich werde mich klarer ausdrücken.

Mich entblößen, damit man mich als Sänger im Musikgeschäft kennen und schätzen lernt, war schon immer mein großer Traum. Weißt du, Musik, dass in Deutschland - nach den Vereinigten Staaten - am meisten Platten verkauft werden?
Wenn mich jemand gefragt hat, was ich als Erwachsener machen wollte (auch wenn ich (fast) erwachsen bin, hört man nie auf dazu zu lernen), so habe ich

immer geantwortet, dass ich einen schwierigen, aber auf mich zugeschnittenen Weg einschlagen wollte. Sänger zu werden, die Welt zu bereisen, die bekanntesten Stars zu treffen, aber vor allem so etwas für die Nachwelt zu hinterlassen.
Ich schäme mich nicht, dir zu sagen, dass der Tod mir Angst macht. Ich kann die Tatsache weder verstehen noch annehmen, dass eines Tages alles Ich verschwunden und dass mein Innerstes wie eine Kerze im Wind ausgelöscht sein wird. Nur durch dich empfinde ich eine Art von Unsterblichkeit. Ich glaube, dass das Schreiben von Liedern, mir die Möglichkeit gibt, das Herz vieler Menschen zu berühren und somit in ihren Erinnerungen zu überleben. Es ist vielleicht nur ein kleiner Trost, aber es ist immerhin etwas, was mich glauben lässt, dass nicht alles umsonst gewesen ist.

Aus diesem Grund habe ich mich bemüht, jemanden zu finden, der mir auf meinem Werdegang hilft. Das Glück, wie man weiß, hilft den Tüchtigen. In der Tat ist es eines Tages so passiert: als ich in einem Musikladen ein E-Piano ausprobiert und dazu gesungen habe, dass der Besitzer auf mich neugierig geworden ist und mich nach meiner Telefonnummer gefragt hat. In Wirklichkeit war ich dort nur, weil ich leider meinen lieben, aber zu alt gewordenen Zimmergenossen (das gute alte Klavier) abgeben musste. Nach einer Woche haben mich überraschenderweise Freunde des Musikladenbesitzers angerufen,

die später meine Produzenten werden sollten. Sie haben mich gefragt, ob ich für ein Vorsingen bereit wäre. Ich habe gedacht: "Die wollen mich verarschen". Doch natürlich habe ich angenommen. Nach einer Woche sprach ich vor, vollkommen süchtig nach Träumen (siehst du, dass süchtig sein, manchmal hilft?). Nach dem Vorsingen, wurde ich wie ein Päckchen, das an den Absender zurückgeht, nach Hause geschickt. Ich habe geglaubt, ihnen nicht gefallen zu haben. Doch ich hatte Unrecht. Einen Tag später bekam ich die schöne Nachricht: World of music, here I am!
Das war der Anfang unserer musikalischen Zusammenarbeit.
Projekt Nr. 1: "Oh no!" - Was leider ein böses Omen war, denn wie der Titel schon sagt, wurde keine der berühmten, im Showgeschäft relevanten

Persönlichkeiten darauf aufmerksam.
Projekt Nr. 2: "La mia parola". Wir haben es geschafft! BMG Ariola (RCA) mit Sitz in Hamburg klopft an meine Tür und beginnt, mir den Hof zu machen. Das Ergebnis? Zwei zugesicherte Singles plus die Option auf drei Alben.
Promotion der Single: Radiopromotion bei den wichtigsten Sendern, Schaffung einer offiziellen Homepage, fünf Auftritte bei den nationalen Fernsehsendern (ZDF, RTL, RTL2), Fotosessions in Berlin für das Cover und für verschiedene Pressefotos.
Ich muss dir einfach von dem Konzert erzählen, das mir bis heute die stärksten Gefühle bereitet hat. Die Plattenfirma hatte mich zur Popkomm geschickt, eines der wichtigsten nationalen Popevents, das jährlich (damals noch in Köln) stattfand. Wie kann ich nur meine Eindrücke auf jener Bühne erklären, wo

weltbekannte Stars (siehst du Ricky Martin, das ist ein echt heißer Typ:) zusammen mit mir aufgetreten sind? Jeder zwei Songs, 25.000 Zuschauer. Orgasmus der Sinne. Verstanden? Understood? 25.000 ZUSCHAUER! Kannst du dir vorstellen, was man empfindet, in einer Limousine zu sitzen, umgeben von Bodygards und ausgeflippter Fans, die nicht einmal deinen Namen kennen, die dich aber nach deinem Auftritt verzweifelt um ein Autogramm bitten (und um die Hotelzimmernummer)?

Ich ja. Deswegen kann ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, mich damit abfinden zu müssen.
Glück und Schmerz geben sich oft die Hand. Denn die Schmerzen haben auch mich eingeholt. Meine Art Director von BMG war schwanger und bevor die zweite Single herausgebracht werden konnte, wie vertragsmäßig vereinbart, musste sie ihren Schwangerschaftsurlaub antreten.

Ihr Nachfolger hat aber überhaupt kein Interesse gehabt, das Projekt "Nevio" voranzubringen. Der Grund dafür war der tägliche Überlebungskampf ihrer Klasse innerhalb der Plattenfirma. Auch wenn der Vertreter auf mich gesetzt und geglaubt hätte, wären die Verdienste auf die zurückgefallen, die in jenem Augenblick Windeln wechselte. Scheiße (im wahrsten Sinne des Wortes)! Nun, da es uns nicht vergönnt war, auf zivilisierte Art und Weise mit jenem „Gentleman" zu kommunizieren, bestand die einzige Möglichkeit um mit gar nichts dazustehen darin, aus dem Vertrag auszusteigen und eine Geldsumme zu kassieren, die unter mir und meinen beiden Produzenten aufzuteilen war. Aber deiner Meinung nach, auch wenn du glaubst, dass es nicht lohnt, sich umsonst aufzuregen, was zum Teufel interessiert mich das ganze Geld dieser Welt an, wenn ich nicht den Traum meines Lebens realisieren kann?!Und diesem widmet sich auch mein Papa, der für mich weiterträumt. Denn seit ich in Bologna (Forlì) lebe, quält er mit der für Eltern typisch zähe und liebevolle Art, die deutschen und italienischen Plattenfirmen mit ständigen Anrufen, ohne Zeit oder Geld zu scheuen. Zum Glück haben seine Anstrengungen Früchte getragen. Ich habe schon einige Gespräche in Rom und Mailand geführt und versucht, mich auf dem zum Teil verkorksten Markt zurecht zu finden.
Dann müssen wir natürlich noch abwarten, wie sich das aktuelle Abenteuer "Deutschland sucht den Superstar" entwickelt, für das ich zur Zeit wirklich mein letztes Hemd geben würde, da es eine riesige Chance ist, meinen Traum zu verwirklichen.
Schließlich ist mir aufgefallen, dass die Welt des Plattengeschäfts kein Zuckerschlecken ist. Denn es reicht nur ein Augenblick und du bist "out". Es ist wirklich eine Schlangengrube und bis man oben ist, muss man viele Rückschläge hinnehmen. Es ist wahr, dass die richtigen Verbindungen, die "berühmten" Beziehungen (Italien - aber nicht nur Italien - lebe hoch!) zu besitzen, unumgänglich ist, um sich zu behaupten!
Liebste Musik, jetzt weißt du fast alles über mich, während ich nie deine abertausende Facetten und Formen, als wärst du ein unschätzbarer Diamant, kennen werde.
Ich verspreche, nie vor Schwierigkeiten klein beizugeben und zu kämpfen, um dich bestmöglichst kennen zu lernen. Manchmal werde ich dir vielleicht distanziert erscheinen, zwei Schritte von dir entfernt, oder auf dem Thron eines arroganten Königs. Doch ich bin weiterhin in meiner Arglosigkeit überzeugt, dass jedes neue Konzert dir zeigen wird, wie wahr und echt meine Liebe für dich ist.
So banal es auch sein mag, ein aufrichtiges Dankeschön an dieser Stelle ist mehr wert als tausend Worte. Ich weiß nicht, was du in Zukunft für mich bereithältst, doch ich hoffe, es bald zu entdecken. Eines ist sicher. Ich werde nie und nimmer damit aufhören, deinen Augen zu folgen, wo immer sie mich hinführen werden. Auch wenn ich weiss, dass früher oder später mein Lauf zum Stillstand kommen wird, während du ewig leben wirst.
In Liebe.
NEVIO